Bernhard Windscheid wurde als drittes von vier Kindern des Königlichen Hypothekenbewahrers und Steuerrats Ferdinand Windscheid (1787–1869) und seiner Ehefrau Frederike (1795–1852), geb. Servaes geboren.[1][2] Nachdem er die Knabenschule in Emmerich und Recklinghausen besucht hatte, legte er 1834 in Düsseldorf das Abitur ab.
Er begann in Berlin Sprachwissenschaften zu studieren, entschied sich aber rasch, unter dem Einfluss der Vorlesungen von Savigny, für das Studium der Rechtswissenschaft, das er von 1834 bis 1836 in Berlin, Bonn und wiederum in Berlin absolvierte.[3] Das Erste Juristische Examen legte er 1837 ab, danach folgte ein praktischer Justizdienst beim Landgericht Düsseldorf.
Am 4. November 1858 heiratete er die Malerin Lotte Pochhammer (1830–1918), mit der er vier Kinder hatte. 1868 wurde ihm vom bayrischen König der Adelstitel verliehen, da er sich jedoch als Mitglied einer bürgerlichen Familie begriff, führte er diesen nicht. Von Heidelberg ging Windscheid im Herbst 1874 an die Universität Leipzig, wo 1880 seine Berufung zum Ordinarius der Juristenfakultät erfolgte. In Leipzig war er bis zu seinem Tode wissenschaftlich tätig. Dort hatte er sich auch an den organisatorischen Aufgaben der Leipziger Hochschule beteiligt und war 1884/85 der Rektor der Alma Mater.
Er wurde im Ehrengrab der Universität Leipzig in der V. Abteilung des Neuen Johannisfriedhofs beerdigt.
Auf Vorschlag Badens wurde Windscheid im Sommer 1874 zum Mitglied der Ersten Kommission für die Abfassung eines Entwurfs zu einem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) gewählt, der er bis zum 30. September 1883 angehörte. Wenn auch Windscheid der Ansicht war, das römische Recht sollte als Ganzes für das Deutsche Reich übernommen werden, so hat sein Hauptwerk, das ab 1862 erschienene dreibändige Lehrbuch des Pandektenrechts, den ersten Entwurf des BGB entscheidend beeinflusst. Er stellte das römische Recht seiner Zeit darin gesamtheitlich und so anschaulich dar, dass das Lehrbuch bis zum Jahr 1900 selbstverständlich herangezogen wurde und das bis dahin fehlende Bürgerliche Gesetzbuch weitestgehend zu ersetzen vermochte. Besondere Beachtung verdient dabei, dass textkritischen Analysen – wie sie vorreitend beispielhaft Otto Lenel und Otto Gradenwitz betrieben hatten – noch kaum der Boden bereitet war. Windscheid kam in seiner streng systematisch geprägten Dogmatik und Darstellung der Pandekten den Bedürfnissen der Praxis weit entgegen, da er anders als die konservativen Anhänger der historischen Rechtsschule ganz auf die historische Behandlung der Quellen verzichtete und nur nach der für die Gegenwart praktikablen Einordnung suchte.[4] Das Werk genoss höchsten Stellenwert und wurde nach 1900 von Theodor Kipp noch zweimal neu aufgelegt.
Zu den bedeutenden juristischen Errungenschaften Windscheids gehört die Etablierung des rein materiell-rechtlichenAnspruchsystems für das Zivilrecht in seiner heutigen Form. Damit löste er die bis dahin geltenden römischen actiones ab, ein über hergebrachte, determinierte Klageformeln definiertes Rechtssystem. Den Grundstein legte seine Schrift: Die actio des römischen Civilrechts vom Standpunkte des heutigen Rechts, erschienen 1856.
Mit seinem Werk Die Lehre des römischen Rechts von der Voraussetzung führte Windscheid 1850 den Begriff der „Voraussetzung“ als Willensbeschränkung in die Methodik seiner Rechtsauffassung ein („Voraussetzungslehre“). Eine Partei, die sich nur unter der Voraussetzung des Bestehens, der Fortdauer oder des Eintritts eines Umstandes erkläre, sei an die Willenserklärung nicht gebunden, „wenn sich die Annahme oder Erwartung nicht bewähre“,[5] abzugrenzen gegenüber dem unerheblichen Motiv und der rechtsverbindlichen Bedingung im Sinne des heutigen § 158 BGB. Mit dem Rechtskomplex der „Voraussetzung“ konnte sich Windscheid bei den Gesetzesverhandlungen letztlich aber nicht durchsetzen,[6] weil die Gefahr gesehen wurde, dass die Rechtssicherheit in dem Punkt gefährdet würde.[7][8] Auch das Reichsgericht lehnte die „Voraussetzungslehre“ Windscheids ab, da sie seiner Auffassung nach weder dem Recht der römischen Antike entsprach noch dem des pandektisch aufgearbeiteten Corpus iuris civilis, weshalb jegliche „quellenmäßige Begründung“ fehle.[9] War die Lehre von der Voraussetzung damit positivrechtlich gescheitert, so diente sie doch – zusammen mit der clausula rebus sic stantibus und der laesio enormis – als wesentliche Vorgängerin der 1921 von seinem Schwiegersohn[10]Paul Oertmann entwickelten Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage, heute Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB.
1888 erhielt er von der Universität Leipzig den Ehrendoktortitel.[11] 1890 wurde Windscheid Ehrenbürger von Leipzig, wo auch 1911 eine Straße seinen Namen erhielt. Auch in Berlin-Charlottenburg trägt die Windscheidstraße seit 1897 seinen Namen, im Düsseldorfer Stadtteil Düsseltal ist seit 1903 eine Straße nach ihm benannt.
Festschrift zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum von Bernhard Windscheid am 22. Dezember 1888. Hrsg. von der Rostocker Juristenfakultät. Neudruck der Ausgabe Rostock 1888. Scientia, Aalen 1979, ISBN 3-511-00906-5.
Ulrich Falk: Ein Gelehrter wie Windscheid. Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Band 38). Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-465-01866-4 (Dissertation).
Ulrich Falk: Der wahre Jurist und der Jurist als solcher. Zum Gedenken an Bernhard Winscheid. In: Rechtshistorisches Journal (RJ). Band 12, 1993, S. 598–633.
Gabor Hamza: Entstehung und Entwicklung der modernen Privatrechtsordnungen und die römischrechtliche Tradition. Budapest 2009, ISBN 978-963-284-095-6, S. 193–200.
Gerd Kleinheyer, Jan Schröder: Bernhard Windscheid. In: Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Heidelberg 1996, ISBN 3-8252-0578-9.
Bernd Klemann: Sieben kleine Beiträge für eine Windscheid-Biographie. In: Heinz Mohnhaupt (Hrsg.): Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988–1990). Beispiele, Parallelen, Positionen (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Band 53). Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-465-02271-8.
Friedrich Klein: Bernhard Windscheid 26. 6. 1817–26. 10. 1892. Leben und Werk (= Schriften zur Rechtsgeschichte. Band 168). Berlin 2014, ISBN 978-3-428-14118-0.
Gottlieb Planck: Windscheid als Mitarbeiter am Bürgerlichen Gesetzbuche. In: Deutsche Juristen-Zeitung. Göttingen 1909, Sp. 951–954.
Joachim Rückert: Bernhard Windscheid und seine Jurisprudenz „als solche“ im liberalen Rechtsstaat (1817–1892). In: Juristische Schulung (JuS). 1992, S. 902–908.
Joachim Rückert: Methode und Zivilrecht bei Bernhard Windscheid (1817–1892). In: Joachim Rückert, Ralf Seinecke (Hrsg.): Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner. 3. Auflage. Baden-Baden 2017, ISBN 978-3-8487-2931-9, S. 121–147.
Joachim Rückert: Windscheid – verehrt, verstoßen, vergessen, rätselhaft? In: Juristenzeitung. 2017, S. 662–670.
↑Schubert, in: Horst Heinrich Jakobs, Werner Schubert: Die Beratungen des Bürgerlichen Gesetzbuches in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB. Berlin/New York 1978, S. 86.
↑Ferdinand von Fuchsius: Nachrichten über die Familie Windscheid. Düsseldorf 1891, Tafel I (Digitalisat)
↑Erik Wolf: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. 4. Auflage. Tübingen 1963, S. 588.
↑Max Kaser: Das Römische Privatrecht. (= Handbuch der Altertumswissenschaft. Abteilung 10: Rechtsgeschichte des Altertums. Band 3.3.1: Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht). C.H.Beck, München 1955, 2. Auflage 1971. Erster Abschnitt. § 2, S. 9.
↑Besonders erbittert kämpfte Otto Lenel (u. a.) mit diesen Worten gegen die Lehre von der Voraussetzung: O. Lenel: Die Lehre von der Voraussetzung (im Hinblick auf den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches). In: Archiv für die civilistische Praxis. Band 74, 1889, S. 213 (216). Das Scheitern der Voraussetzung im Bürgerlichen Gesetzbuch wird maßgeblich auf diesen Aufsatz zurückgeführt – zu Unrecht, wie später u. a. Wolfgang Fikentscher behauptete: Finkentscher: Die Geschäftsgrundlage als Frage des Vertragsrisikos. 1971, S. 5.
↑Ulrich Falk: Ein Gelehrter wie Windscheid, 1989, S. 193 ff.
↑Reinhard Zimmermann: Heutiges Recht, Römisches Recht und heutiges Römisches Recht. In: Reinhard Zimmermann u. a. (Hrsg.): Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik. C. F. Müller, Heidelberg 1999, S. 1–39 (35).